H. Hein-Kircher: Lembergs "polnischen Charakter" sichern

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Titel
Lembergs "polnischen Charakter" sichern. Kommunalpolitik in einer multiethnischen Stadt der Habsburgermonarchie zwischen 1861/62 und 1914


Autor(en)
Hein-Kircher, Heidi
Reihe
Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung 21
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
404 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Augustynowicz, Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien

Multiethnische Kompositionen und auf Homogenisierung abzielende Hegemonieansprüche in begrenzten Räumen, beispielsweise in Städten, haben angesichts aktueller Diskussionen um Migrationsprozesse und Verantwortungszuweisungen vor dem Hintergrund steter und stets gesteigerter Mobilität und sozialer Diskrepanzen Gültigkeit, ja womöglich sogar Konjunktur. Vor diesem gesellschaftspolitischen Hintergrund untersucht die Autorin der vorliegenden, ursprünglich an der Philipps-Universität Marburg als Habilitationsschrift angenommenen Arbeit die Aktivitäten des Stadtrates der galizischen Hauptstadt Lemberg in der zweiten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts unter dem Vorzeichen einer polnischen Zivilisierungsmission. Dass die Region Galizien (insbesondere der Osten des habsburgischen Kronlandes Galizien) paradigmatisch für die Themenfelder Multiethnizität bzw. Nationalisierung zum einen und (defizitäre bzw. verzögerte) Modernisierung zum anderen ist, kann und braucht hier nicht weiter erläutert zu werden. So ist es auch nur konsequent, dass im Vordergrund Fragen von diskursiven Meinungsbildungen und praktischen Aufholprozessen im Kontext der Auseinandersetzung um nationale (polnische), den imperialen Rahmen (Habsburgermonarchie) wahrende Dominanz vor dem Hintergrund multiethnischer (ruthenisch/jüdisch/deutscher etc.) Koexistenz stehen. Die untersuchten und aufgezeigten Entwicklungen und ihre Diskurse werden dem in der Forschung dynamisch diskutierten Interesse an der Stadtgeschichte Ostmitteleuropas im 19. Jahrhundert eingeschrieben; einem derart übergeordneten Interesse an stadtgeschichtlichen Problemen ist mit den „Beiträgen zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung“ sogar eine eigene Reihe gewidmet, im Rahmen derer die zu besprechende Arbeit erfreulicherweise erscheinen konnte.

Ihre komplexe Gliederung wird hier nur auf oberster Ebene vorgestellt: Zu Beginn steht eine umfassende Einführung und Erläuterung der methodischen Zugänge (Kapitel 1); anschließend wird die Geschichte der Stadt Lemberg mit besonderem Augenmerk auf ihre Selbstverwaltung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts essayartig erfasst (Kapitel 2), ehe die Stadtverwaltung als Akteur der polnisch dominierten gesellschaftlich-politischen Führung dargestellt wird (Kapitel 3). Nachdem die Stadtentwicklung dem überregionalen Paradigma von Modernisierung (das „schöne Lemberg“, Investitionen, Stadtentwicklung) eingeschrieben wurde (Kapitel 4), werden die städtische Bildungs- und Kulturpolitik (Schulen, Universität, Theater, Galerie, Historisches Museum; Kapitel 5) sowie die Geschichtspolitik und Selbstdarstellung (Straßennamen, Denkmäler, Feiern, Landesausstellung 1894, zeitgenössische Historiographie; Kapitel 6) als hauptsächlich polonisierend intendiert aufgefasst, um schließlich unter der eindrücklich verdichtenden Überschrift „Lembergs ‚polnischen Charakter‘ sichern“ die Ergebnisse wieder stärker essayartig zusammenzuführen (Kapitel 7).

Analytisch herangegangen wird über die Begriffe von Modernisierung und Sicherheit, die hin zu einer Kulturgeschichte des Politischen verfolgt werden, womit der methodische Zugang schlüssig argumentiert ist. Nicht minder überzeugt die Auswahl der beeindruckend vielfältigen und umfangreichen unveröffentlichten (Archivmaterial aus einschlägigen stadtadministrativen Beständen vor allem in Lemberg, aber auch ergänzend in Breslau, Warschau und Wien) und veröffentlichten (Periodika, Memoiren, Normativa, Rechenschaftsberichte und Sitzungsprotokolle der Stadtverwaltung und ihrer Unterorgane, Programme der politischen Parteien und gesellschaftspolitisch relevanten Vereine, statistisch-topographisches Material) Quellen. Der Forschungsstand ist umfassend verarbeitet und berücksichtigt auch aktuelle Positionen vor allem auf Deutsch, Englisch und Polnisch, aber freilich auch auf Ukrainisch, sowie darüber hinaus auf Französisch und vereinzelt auf Russisch; die Autorin kann dabei auf nicht weniger als 13 Vorstudien aus eigener Feder verweisen. Besonders hervorgehoben sei der mit der Arbeit geleistete Wissens- und Forschungstransfer, da Impulse der so lebendigen und exzellenten aktuellen polnischen Stadtgeschichtsforschung verarbeitet und derart der deutschsprachigen Diskussion vermittelt werden. Die diskursive Verflechtung der ständig wiederholten rhetorischen Figuren vom „schönen Lemberg“ und seinem „polnischen Charakter“ und deren Funktion für eine erfolgreiche Herrschaftssicherung im Rahmen des übergeordneten Nationsbildungsprozesses werden eindringlich gezeigt; in Erweiterung marginal älterer einschlägiger Arbeiten werden dabei auch praxeologische Aspekte wie die Herausarbeitung von Wahlmanipulationen mittels vorgeblich funktional, tatsächlich aber stark ethnisch organisierter Listen beleuchtet (S. 124). Originell im Sinne der bereits hervorgehobenen erfreulich weiten Perspektive ist auch der Umstand, dass als Paradigmen für urbane und urbanisierende Modernisierung dabei nicht nur Städte der Habsburgermonarchie, sondern auch des Königreichs Polen bzw. der Weichsel-Gouvernements und des Deutschen Reiches herangezogen und stets im Sinne eines Beziehungs- und Bedeutungsgeflechtes mitbehandelt werden, etwa in den Kapiteln zu Denkmälern und Feiern. In formal-organisatorischer Hinsicht sei schließlich betont, dass ein ausführliches und minuziös ausgearbeitetes Register zu Orten, Personen und Sachzusammenhängen (insbesondere zu Institutionen und Zeitungen) den Zugang zum Text mustergültig erleichtert.

Anzumerken bleibt, dass bei der Kontextualisierung hinsichtlich des Zusammenhangs von Nationsbildung und Gedenkfeiern die Berücksichtigung von Patrice Dabrowskis Arbeit „Commemorations and the Shaping of Modern Poland“ von 2004 zusätzlich hilfreich gewesen wäre.1 Bezüglich der reichhaltigen Ausstattung mit Bildmaterial (27 Bilder), das sich auf Stadtansichten konzentriert, aber auch Porträts von Funktionsträgern beinhaltet, wurde von der Autorin die Entscheidung getroffen, die Herausarbeitung des materiellen Befundes klar und unmissverständlich in den Vordergrund zu stellen, es jedenfalls stärker illustrierend einzusetzen als es zur Grundlage vertiefender Interpretationen zu machen und im Fließtext nur selten (S. 162, 224) unmittelbare Bezüge über Verweise herzustellen. Auf weitere Möglichkeiten der interpretativen Nutzung wie etwa den exemplarisch-seriellen Vergleich repräsentativer Bauten mit ihren Pendants in anderen Städten (Schlagwort imperiale Architektur) oder eine Fragestellung nach historisch bzw. historistisch verwendeten Stilen und ihren ideologischen Implikationen wird hingegen verzichtet. Das widerspricht freilich weder der Themenstellung der vorliegenden Studie, noch schmälert es die analytischen Verdienste der Autorin. Kann man es als vergebene Chance sehen und bedauern, so muss hingegen auffallen, dass das im untersuchten Zeitraum durchaus blühende und expandierende jüdische Lemberg im Gegensatz zum explizit polnischen (Mickiewicz- und Sobieski-Denkmal) und zum ruthenischen (St. Georgs-Kirche) Lemberg zwar nicht unerwähnt, sehr wohl aber unabgebildet bleibt. Dieser Umstand ist umso signifikanter, als die Juden – wie übrigens auch die Ruthenen – zwar nicht wahlberechtigt waren (S. 116), in ihren unterschiedlichen wirtschaftlich-gesellschaftlichen Stellungen und ethno-religiösen Ausrichtungen im Stadtbild aber eine signifikante Rolle spielten; einem Stadtbild, dessen zwar polnisch angeleitete, aber dennoch insgesamt implementierte Modernisierung schließlich im Zentrum der Betrachtungen steht.

Abschließend sei hervorgehoben, dass die Selbstverwaltung Lembergs als vorbildlich hinsichtlich der Junktimierung von Modernisierung und Polonizität bzw. Polonisierung intendiert war; darauf weist die Autorin gleich zu Beginn des abschließenden Kapitels und somit exponiert hin, wenn sie schreibt: „Aus dem ‚Wohl der Stadt‘ und ihrer Vorbildfunktion für andere Städte wurde die ‚historische Mission‘ des ‚schönen Lemberg‘ abgeleitet, das die polnische Nation verteidigen und daher selbst vor Bedrohung gesichert werden müsse“ (S. 326). Schließlich ist ihr die Forschungslandschaft zur vornehmlich kulturgeschichtlichen Erschließung kleinerer polnischer Städte des 19. Jahrhunderts in Galizien und an der galizischen Grenze (S. 20, Anm. 26) ganz mustergültig und in extenso bewusst und bekannt. Die Arbeit kann daher als Anregung verstanden werden, in weiteren Studien der galizischen Peripherie verstärkt Aufmerksamkeit zuzuwenden, das Feld ist offensichtlich weiter fruchtbar.

Anmerkung:
1 Patrice M. Dabrowski, Commemorations and the Shaping of Modern Poland, Bloomington 2004.

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